Lebenslanges Lernen und die Herausforderungen neuer gesellschaftlicher Entwicklungen provozieren ein kritisches Hinterfragen der bisherigen, überwiegend aus dem kindlichen Lernen adaptierten, Erkenntnisse. Lernen wird charakterisiert als menschlich, dynamisch, komplex, individuell und aufwändig.
Im Rahmen der vorliegenden Thematik gilt folgende Definition: Als „Lernen“ wird bezeichnet sowohl der Prozess, als auch das Ergebnis relativ stabiler Zustandsänderungen des Menschen. Diese Zustandsänderungen betreffen u.a. Wissen, Emotionen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, Verhaltensweisen, Persönlichkeit insgesamt. Jegliche Quantifizierung des Lernens gelingt bisher allenfalls für Details, temporär und subjektiv.
Was charakterisiert das „Lernen“? Was dabei ist neu im digitalen Zeitalter? Im Folgenden erläutere ich die, nach meiner Erkenntnis, wesentlichen Merkmale des Lernens in der Gegenwart.
Lernen ist menschlich. Ja, nicht nur: auch lernfähige Tiere oder Maschinen werden genannt. Aber trotzdem ist das Lernen tiefgehend, wechselseitig und umfassend mit dem Menschsein verbunden.
Als Menschen lernen wir das ganze Leben lang. Ständige innere und äußere Reize ziehen Reaktionen nach sich, die Veränderung unseres Fühlens, Denkens und Verhaltens vollziehen sich sowohl stetig als auch stufenweise. Für die Lebensverbundenheit des Lernens spricht ebenso, dass viele Menschen das Lernen als einen ihrer wichtigsten persönlichen Lebensbereiche herausstellen. Es wird verbunden mit Lebens-Sinn, Selbstwert und positiven Emotionen, wie Vorfreude oder Erkenntnismomente (Heureka-Momente).
Das menschliche Lernen ist sozial eingebunden. Als „Nesthocker“ braucht der Mensch eine verhältnismäßig lange Zeit, um sein physisches und soziales Leben selbst zu gewährleisten. Die dazu nötigen Lernprozesse sind gerade in den ersten Lebensjahren nur möglich durch äußere Veranlassung und Unterweisung, in engster Bindung und hoher Abhängigkeit von den jeweiligen Bezugspersonen. Diese Abhängigkeit von zunächst wenigen Lehrenden und unsere fast vollständige Unwissenheit und Unerfahrenheit kann dazu führen, dass wir als Kinder auch unter Bedingungen von Angst, Zwang und Kreativitätshemmung lernen.
Menschliches Lernen ist immer auch kulturbedingt. Die jeweilige Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft, die öffentliche Verfügbarkeit von Wissen und das soziale Klima zur Förderung von Kultur (im weitesten Sinn) und Bildung sind Grundlage, Parameter und Ziel dafür.
Zu Beginn eines „Wissenszeitalters“ sollten wir, neben dem „Wie“, darüber hinaus auch viele Fragen des „Was“ und „Wieviel“ im lebenslangen Lernen bzw. Lehren grundsätzlich neu beantworten.
Lernen ist dynamisch. Offensichtlich verändern und entwickeln sich menschliche Lernprozesse ständig – nicht linear und mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Tempi, Ergebnissen.
Determinanten dafür sind sowohl unsere Anlagen, unser Umfeld, wie auch unsere eigenen Aktivitäten, die jeweils erreichten Stufen unseres Wissens, der Denk- und Verhaltensweisen, aber auch andere Aspekte des Menschsein, wie Gesundheit oder Alterungsprozesse. Welchen Einfluss genau die einzelnen Determinanten auf die menschlichen Lernprozesse haben, lässt sich vorläufig nicht definieren, zumal die Wissenschaften bisher nur einen Bruchteil vieler dieser Faktoren überhaupt erkannt haben.
Zur Dynamik des Lernens gehört der aufbauende Aspekt. Die sprachlich kurzgefasste Entsprechung sind meist Begriffsketten: wissen-können-handeln, wahrnehmen-einordnen-merken, Information-Erkenntnis-Wissen, Anfänger-Fachmann-Meister u. a. Ein Ignorieren solcher Entwicklungsstufen kann schnell zu Überforderung und zum Scheitern von Projekten führen.
Dem dynamisch-aufbauenden Aspekt des Lernens ordne ich ebenso die beiden wissenschaftlichen Denkweisen zu: induktiv bzw. deduktiv.
Darüber hinaus kann man die Dynamik menschlichen Lernens mit der sozialen Reifung und Persönlichkeitsentwicklung begründen. Als Kinder sind wir für faktisch alles offen. Kindliche Neugier und Fantasie ermöglichen extensives, vielseitiges, vielgestaltiges und passiv-absorbierendes Lernen. Andererseits können Kinder Neues lange nicht so kritisch, zielgerichtet und effizient verarbeiten. Und schon gar nicht erfahren-intuitiv anwenden, wie eventuell in späteren Lebensphasen. Das klingt trivial, hat aber enorme Auswirkungen auf die gesamte Bildungstheorie und –praxis, wie sich historisch leicht nachvollziehen lässt.
Unter dem Stichwort „Dynamik des Lernens“ sollten auch die Prozesse des ungewollten Vergessens und des Ent-Lernens in Form von Demenz o. ä. erwähnt werden.
Lernen ist komplex. Nicht nur in Bezug auf die Komplexität des Gehirns oder des Bewusstseins. Hier soll die Komplexität von menschlichen Lernprozessen angesprochen werden mit drei Attributen: systematisierend, operational und differenziert.
Seit langem gelten wir Menschen als „Struktur-Tierchen“: Wahrnehmungen, Informationen, Gedanken, Erfahrungen etc. nehmen wir erst dann als „Erkenntnisse“ an, wenn wir sie klassifizieren, einordnen, strukturieren können. Mit dieser gedanklichen Verarbeitung sind wir nicht nur in der Lage, die Welt zu erkennen, sondern auch systematische Strukturen zu konzipieren und zu modellieren. Noch vor wenigen Jahren systematisierten, lernten und dachten wir überwiegend hierarchisch. Mit Beginn des IT-Zeitalters treten darüber hinaus zunehmend Netzwerk-Strukturen in den Vordergrund – auch im Lernen. Netzwerke sind per se komplexer als Hierarchien.
Die operationalen Beziehungen zwischen Strukturelementen beim Lernen werden als „logisch“ kategorisiert, wobei viele Wissenschaften inzwischen ihre spezifischen Arten von Logiken verwenden. Solche spezifischen Logiken sind z.B.: sprachliche oder sozial-kommunikative Codierungen, mathematische Operationen, zeitlich lineare Abfolgen, Dialektik oder auch emotionale Prozedere.
Eine bisher eher Nischen-Logik findet mit der Computerisierung des Alltags immer größere Verbreitung: die binäre. Technologieentwicklung und Fortschritt hängen in den nächsten Jahren in hohem Maße davon ab, inwieweit wir Netzwerk-Systematik und Binär-Logik in unser Denken, Lernen und Handeln einbeziehen. Und es scheint kinderleicht zu sein – das Phänomen der „digital natives“ beweist es. Älteren Generationen fällt es m. E. deshalb so schwer, weil sie nicht einfach neu, sondern vor allem „um-lernen“ müssen. Und: Umlernen bis in Lebensbereiche hinein, die lange Zeit als beständig erinnert werden.
Die Komplexität des Lernens lässt sich außerdem mit ihrer Differenziertheit beschreiben. Wie bereits erwähnt, sind „äußere“ Erfolgsfaktoren für das Lernen sehr vielgestaltig. Hinzu kommen die biologisch-medizinischen Vorgänge.
Was passiert genau in unserem Gehirn, in unserem Körper beim Lernen? Welchen Einfluss haben wir selbst darauf? Wie geht das zu steuern? Gibt es allgemeingültige Regeln oder ist schon die Frage danach kontraproduktiv?
Es sind Forschungsthemen, bei denen uns nach jeder neuen Antwort ein ganzes Schock neuer Fragen erwartet. Komplexität eben – für Lernen und Lehren, für Theorie und Praxis, allgemein und für jeden einzelnen Menschen.
Lernen ist individuell. Lernen geht nur selbst – anderen können wir höchstens lehren. Philosophisch gesehen, lernen Menschen sowohl als einzelnes Ich wie auch als erkennendes Ich. Lebenslang, wie auch in außergewöhnlichen Zuständen, nehmen wir Informationen auf, bewerten, verknüpfen und speichern sie, entscheiden über Wissens-, Denk- und Verhaltensänderungen. Freier Wille und Bewusstsein beeinflussen diese Prozesse und deren Ergebnisse – so individuell unterschiedlich, dass wir uns immer wieder neu fragen, wie man diese Kategorien überhaupt allgemeingültig erklären kann. Lernen ist individuell, weil subjektiv.
Menschliches Lernen ist geprägt durch die Individualität der Persönlichkeit. Wenn man Lernbiografien älterer Menschen analysiert, kristallisieren sich Erkenntnisse darüber heraus, dass das Lernen und seine Folgen, Interessens- und Fachgebiete, Meisterschaft und Einsatz, sich in ständiger Wechselwirkung mit der Persönlichkeit selbst entwickeln. Intelligenz, Charakter, Sensibilität, Reife, Flow – das sind Begriffe sowohl der Persönlichkeit, als auch des menschlichen Lernens. Lernen gehört zur Persönlichkeit, wie Persönlichkeit zum Lernen.
Die Individualität beim Lernen begründet sich ebenso auf unseren Erfahrungen.
Unsere Lebenserfahrung in allen Bereichen, ihre individuelle Reflexion und Bewertung, z.B. was mir nutzt oder schadet, welche Wege besonders leicht zum Ziel führen, was ich gut kann und was nicht, was mir weiterhelfen kann usw., prägt entscheidend unsere Motivation und unsere Aktivität.
Wie wir Neues wahrnehmen und (ob überhaupt) einbeziehen, wie wir mit Informationen umgehen und sie verarbeiten, ob und wie wir durch mentale Vernetzung zu neuen Erkenntnissen gelangen oder Trainiertes anwenden und all das in unserem Tun nutzen – es verändert sich mit wachsendem Erfahrungsschatz.
Lernen ist aufwändig. Die vielleicht wichtigste Gewissheit, leider in Theorie und Praxis des Lernens und Lehrens häufig unbeachtet.
Der Verständlichkeit halber benutze ich das mathematische Modell der Multiplikation, wobei besonders der Effekt des gegenseitigen Ausgleichs der Faktoren für ein beabsichtigt ähnliches Produkt bemerkenswert erscheint. (Dabei sind die Nennwerte sowohl der Faktoren wie auch des Produktes wegen ihrer komplexen Determiniertheit nicht einfach zu quantifizieren.) Die Aufwands-Faktoren seien benannt als: Zeit, Denkarbeit und Sozialklima.
Der Aufwandsfaktor Zeit widerspiegelt sich sowohl direkt als Faktor für die Effektivität bzw. Effizienz von Lernprozessen, kann aber auch indirekt durch den Aufwand für vergangene bzw. gegenwärtige Arbeit verdeutlicht werden. Wenn jemand generell eine schnelle Auffassungsgabe besitzt, individuell effiziente Lernmethoden entwickelt hat, wenn bestimmte Fertigkeiten und Abläufe viele Stunden immer wieder geübt worden sind, wenn das neue Wissen bereits systematisiert und konzentriert in verständlicher Form vorliegt – dann kann die aufzuwendende Zeit für einen bestimmten Lernprozess sicher relativ kurz gehalten werden.
Für allgemeine schulische und Aus-Bildungsprozesse kann man das überwiegend bestätigen. Für viele Bildungs- und Weiterbildungsaktionen im digitalen Zeitalter bzw. für Erwachsene sind die meisten der genannten Voraussetzungen jedoch nicht gegeben und werden in der Gegenwart auch viel zu gering geschätzt und beachtet.
Ein zweiter Aufwandsfaktor für das Lernen ist „Denkarbeit“. Es ist nicht nur die Bewusstheit oder das Bewusstsein, die wir Menschen uns als das Alleinstellungsmerkmal u.a. für das Lernen als Attribut zugestehen – wobei bis heute niemand umfassend definieren kann, was das wirklich ist. Denkarbeit hat sicherlich auch seine fördernden oder hemmenden Basiskomponenten im Charakter eines Menschen und seinen verinnerlichten Erfahrungen.
Denkarbeit braucht mentale Energie, emotionale und innere Ruhe, Konzentration und Muße. Denkarbeit ist anstrengend und wird so weit wie möglich vermieden.
Der dritte Faktor, der das Lernen als aufwändig bestimmt, ist das Sozialklima. Hierzu seien genannt die Lebensbedingungen, das Verhalten sozialer Gruppen und die Gesellschaftsreife.
Eine Persönlichkeit kann umso besser und schneller lernen, je weniger ihre Gedanken und Gefühle von alltäglichen Sorgen um grundlegende menschliche Bedürfnisse blockiert sind. Je mehr ein Mensch physisch und psychisch anderweitig beansprucht ist, desto weniger Zeit und Kraft hat er für das Lernen zur Verfügung – was die Ergebnisse wesentlich beeinflusst.
Auch hier sind die Faktoren variabel, sind für die Erreichung eines gewünschten Ergebnisses aber nur entgegengesetzt proportional ausgleichbar.
Ein lernförderndes Klima wird darüber hinaus durch das Verhalten der unterschiedlichen Sozialgruppen beeinflusst: Zeit, Motivation, mentale Energie einer Persönlichkeit zum Lernen haben bessere Chancen bei Förderung, Akzeptanz oder wenigstens Duldung durch Familie, Freunde, Organisationen.
Das Verhalten einer ganzen Gesellschaft, oder Gesellschaftsreife in ihrer Wirksamkeit für bzw. gegen Lernen kann man u.a. ablesen an der öffentlichen Wertigkeit von Lernenden und Lehrenden, von neuem Wissen, verändertem Tun und dessen Ermöglichung.
Wichtig ebenso ist die gesellschaftliche Verantwortung und deren Akteure zur Veränderung der eigenen Strategie unter sich entwickelnden Gesamtbedingen, wie ein beginnendes neues, technologie-geprägtes Zeitalter.
Menschliches Lernen im digitalen Zeitalter ist nicht wesentlich anders, als vorher. Es ist eines der wichtigsten Merkmale des Menschseins, ist dynamisch, komplex, individuell und aufwändig.
Mit allgegenwärtigem Einzug von Informationstechnologien, mit tendenzieller Automatisierung von bisher geistigen Arbeiten werden sich einige Schwerpunkte des Lernens und Lehrens in den nächsten Jahren verschieben: hin zu mehr und anderen Inhalten und mit viel mehr notwendiger Weiterbildung für alle Generationen.
Es ist an der Zeit, daraus folgende, neue bzw. veränderte Konzepte des Lernens und Lehrens für alle Altersgruppen im IT-Zeitalter zu entwickeln.
Als Grundlage für zukunftsorientierte Bildungskonzepte wurde hier die Charakteristik des menschlichen Lernens analysiert. In weiteren Beiträgen werden die Spezifika des Lernens bei Erwachsenen und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für Didaktik und Methodik von Lehrprozessen vor allem für die Weiterbildung im IT-Zeitalter dargestellt.
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